Ursachen von Gewalt

Prinzipiell kann jedes Kind und jede und jeder Jugendliche Opfer von Gewalt werden. Dennoch gibt es bestimmte Risikofaktoren, die, wenn einige davon zusammenkommen, eine stärkere Belastungssituation schaffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder und Jugendliche nicht sicher aufwachsen, steigt, wenn bestimmte familiäre, persönliche, soziale oder materielle Gegebenheiten auf ungünstige Weise zusammenspielen. 

Der Mangel an Zuwendung und schwierige persönliche Lebensverhältnisse können durchaus als Risikofaktoren für Gewalttaten gelten, gaukeln Täterinnen oder Täter oft darauf ab, vermeintlich genau diese Bedürfnisse zu stillen. Auch eine mangelhafte Sexualaufklärung oder grundsätzlich erwarteter Gehorsam des Kindes Erwachsenen gegenüber können problematische Ausgangslagen bilden. Auch geschlossene Strukturen, die von Angst vor Ausschluss oder Strafe geprägt sind, stellen ein hohes Risiko für Kinder dar, über längere Zeit unentdeckt Opfer einer Gewalttat zu werden.

Rechtliche Situation

Rechtliche Grundlagen

Bereits in Baustein 2d wurde zwischen Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt gesprochen. Welche Verhalten strafrechtlich gemäß §§174 ff. des Strafgesetzbuches relevant sind, wird im Folgenden genauer erläutert. 

Per Definition sind strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dabei unterscheidet das Strafgesetzbuch vier Schutzaltersgrenzen: Kinder unter 14 Jahren, Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren, Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren und Volljährige ab 18 Jahren. 

Der Schutz von Kindern unter 14 Jahren (§§176, 176a, 176b StGB)

Sexuelle Kontakte zwischen einem Kind und einer Person ab 14 Jahren sind grundsätzlich nicht erlaubt. Alle sexuellen Handlungen an oder vor einem Kind unter 14 Jahren gelten als Missbrauch und sind verboten.

Sexuelle Kontakte zwischen Kindern sind nicht strafbar, da Kinder (also Personen bis 14 Jahre) nicht strafmündig sind. Auch wenn sie nicht strafbar gemäß Strafgesetzbuch sind, sollten sexuelle Handlungen zwischen Kindern dennoch sofort unterbunden werden.

Der Schutz von Jugendlichen unter 16 bzw. unter 18 Jahren (§§180 Abs. 1, 182 StGB)

Mit oder vor Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren sind sexuelle Handlungen dann verboten, wenn die oder der Jugendliche zur Erziehung, Betreuung in der Lebensführung oder zur Ausbildung anvertraut ist. Ob es sich bei Leiterinnen und Leitern um Aufsichtspersonen handelt, denen die Jugendlichen zur Erziehung, Betreuung in der Lebensführung oder zur Ausbildung anvertraut sind, wird von Richtern unterschiedlich eingeschätzt. Doch auch wenn Leiterinnen oder Leiter nach dem Gesetz nicht zwingend als Aufsichtspersonen definiert werden, gilt zu bedenken: Leiterinnen und Leiter der DPSG haben einen klaren Erziehungsauftrag und Verantwortung für die Jugendlichen. Bei sexuellen Handlungen zwischen Leiterin oder Leiter und Jugendlicher oder Jugendlichem herrscht immer ein Ungleichgewicht! 

Ebenso sind sexuelle Handlungen mit Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren strafbar, wenn dabei eine über 21-jährige Person wissentlich die fehlende Fähigkeit der oder des Jugendlichen zur Selbstbestimmung ausnutzt.

Sexuelle Handlungen mit Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren sind strafbar, wenn die oder der Jugendliche schutzbefohlen ist oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist und diese Abhängigkeit missbraucht wird. 

Sexuelle Handlungen mit oder vor Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren sind strafbar, wenn dabei eine Zwangslage ausgenutzt oder Entgelt geleistet wird. 

Verfahrensablauf

Strafanzeige erstatten

Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist eine Straftat. Grundsätzlich kann jede und jeder Anzeige erstatten, die oder der Kenntnis von dem sexuellen Missbrauch eines Kindes oder Jugendlichen hat. Die Anzeige kann schriftlich oder mündlich erfolgen und ist an keine bestimmte Form gebunden. Sie muss grundsätzlich bei jeder Polizeidienststelle oder der Staatsanwaltschaft entgegengenommen werden. Die Strafverfolgungsbehörden haben die Pflicht, sobald sie vom Verdacht einer strafbaren Handlung erfahren, den Sachverhalt zu erforschen (= Strafverfolgungszwang). Sexuelle Straftaten gegen Kinder und Jugendliche können zu einem großen Teil noch nach mehreren Jahren angezeigt werden. Die Verjährung bei Verfahren wegen sexuellem Missbrauch an Kindern ruht bis 10 Jahre nach Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. 

Polizeiliche Vernehmung des Kindes oder Jugendlichen

In vielen Fällen sexuellen Missbrauchs sind die Angaben des Kindes oder der oder des Jugendlichen zunächst einmal die zentralen Beweise. Aus diesem Grund kommt der Anhörung des Kindes oder der oder des Jugendlichen durch die Polizei eine hohe Bedeutung zu. Speziell geschulte Beamtinnen und Beamte der jeweiligen Fachdienststelle befragen das Kind, die Jugendliche oder den Jugendlichen. In einigen Polizeibehörden gibt es zu diesem Zweck auch sogenannte Kinderanhörungszimmer. Das sind kindgerecht gestaltete Räumlichkeiten, in denen die Befragung in Bild und Ton aufgenommen und damit später dokumentiert werden kann. Das ist sehr wichtig, um das Zustandekommen der "Kinderaussagen" nachvollziehbar zu machen und den Vorwurf einer Beeinflussung von Vornherein auszuschließen. Wenn die erste Anhörung durch die Fachdienststelle der Polizei sehr ausführlich und professionell ist, ist dies hilfreich für das weitere Strafverfahren. Eine weitere Vernehmung des Kindes, der oder des Jugendlichen im Gerichtsverfahren ist jedoch in der Regel erforderlich.

Ablauf eines Strafverfahrens 

Die polizeiliche Ermittlungsakte wird an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Diese entscheidet als "Herrin des Ermittlungsverfahrens" über das weitere Vorgehen, zum Beispiel Verfahrenseinstellung oder Klageerhebung bei Amts- und Landgericht. Falls das Verfahren eingestellt wird, wird das den Geschädigten mitgeteilt und es gibt die Möglichkeit der Beschwerde. Wenn in einem Fall Klage erhoben wird, folgt nach einem unterschiedlich großen Zeitraum eine Hauptverhandlung. Diese Wartezeit, in der der Prozess zwar bevorsteht, aber noch nicht angefangen hat, ist für das Kind, die Jugendliche, den Jugendlichen sehr belastend. Deswegen ist es wichtig, sie oder ihn auf die Gerichtsverhandlung gut vorzubereiten und während der gesamten Zeit des Verfahrens zu begleiten. In einigen Städten gibt es daher Zeugenbegleitprogramme. Auch Beratungsstellen bieten hier professionelle Hilfe.

Anzeigepflicht

Für Leiterinnen und Leiter herrscht keine Anzeigepflicht. Wenn ein Kind, eine Jugendliche oder ein Jugendlicher sich anvertraut oder die Leiterin oder der Leiter eine Situation beobachtet hat, sollte der erste Schritt keinesfalls der Gang zu Polizei oder Staatsanwaltschaft sein. Denn ist erst einmal Strafanzeige gestellt, muss die Polizei ermitteln. 

Ermittlungen können für Kinder und Jugendliche äußerst belastend sein und nicht immer kommt es anschließend tatsächlich zu einem Gerichtsverfahren geschweige denn zu einem Schuldspruch. Daher ist unbedingt zu empfehlen, eine Fachberatungsstelle aufzusuchen und gemeinsam mit dieser zu entscheiden, wie weiter vorgegangen wird. 

Quelle: http://www.hinsehen-handeln-helfen.de/besonnenhandeln/vorgericht.asp

Täterinnen- und Tätertypen

In Deutschland kam es 2010 zu 16.000 angezeigten Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern zwischen 2 bis 14 Jahren. Allerdings gehen Fachleute davon aus, dass die tatsächliche Anzahl weitaus höher liegt, dass sich viele betroffene Kinder möglicherweise nicht anvertrauen oder aber dass die Anzeige unterlassen wird, beispielsweise um das Kind zu schützen. Etwa 50% der Täterinnen und Täter kommen aus dem Bekanntenkreis der Familie, etwa 25% sind direkte Verwandte und nur 25% wirklich Fremde. Sind Täterinnen und Täter über einen längeren Zeitraum aktiv, sind sie meist Mehrfachtäterinnen und -täter und machen mehrere Kinder oder Jugendliche zu ihren Opfern.

Oft ist man gerne geneigt, Täterinnen und Täter sexualisierter Gewalttaten genau dort zu vermuten, wo man selber nicht aktiv ist oder sie doch zumindest als derartig andersartig zu beschreiben, dass man wohl kaum mit ihnen zu tun habe. In diesem recht menschlichen Verhalten liegt ein Grundproblem für die Betroffenen: Wenn viele wegschauen und nicht glauben wollen, was sie vielleicht mitbekommen, sehen oder fühlen, dann ist es schwer, Hilfe und Unterstützung zu erfahren. Gerade im Bereich sexualisierter Gewalt tauchen oft immer wieder Mythen zu den Persönlichkeiten der Täterinnen und Täter auf, die es zu entkräften gilt: Keineswegs sind Täterinnen und Täter überwiegend psychisch krank oder pädophil veranlagt, auch Alkohol und Drogen und sexueller Frust spielen kaum eine Rolle. Auch dass ausschließlich Männer zu Tätern werden, ist falsch. 

All solche Mythen nutzen vor allen Dingen Täterinnen und Tätern, denn sexualisierte Gewalt wird im eigenen Umfeld nicht erwartet, Betroffenen oftmals nicht geglaubt oder Hinweise nicht ernst genommen. 

1.4 Täterinnen- und Täterstrategien

Täterinnen und Täter gehen zwar vielfältig, aber fast immer strategisch vor, was ein Aufdecken der Gewalttat zusätzlich erschwert:

„Das Ziel der Täterstrategien ist einerseits, an das Opfer zu gelangen, es gefügig zu machen und jeden Widerstand wirkungslos werden zu lassen bzw. auszuschalten, andererseits durch Geheimhaltung, Schuldzuweisungen und Drohungen als Täter/in unentdeckt/unbestraft zu bleiben und dadurch das kriminelle Verhalten beliebig fortsetzen zu können.“3

Die folgenden Schritte geben einen Überblick, welche Strategien nach Studien des Deutschen Jugendinstituts (2001) Täterinnen und Täter nutzen: 

Langfristige Planung des Missbrauchs

Sexualisierte Gewalt ist in den seltensten Fällen eine spontane Tat, es geht zumeist eine Phase mit sexuellen Gewaltfantasien voraus. Täterinnen und Täter planen den Missbrauch systematisch und langfristig, suchen sich ihre Opfer gezielt aus und rechtfertigen und entschuldigen die Tat vor sich selber.

Suche nach möglichen Opfern und günstigen Voraussetzungen

Jedes Kind, jede und jeder Jugendliche kann Opfer von Gewalt werden. Doch es gibt gewisse Faktoren und Eigenschaften, die Kinder und Jugendliche für Täterinnen und Täter zu potentiellen „einfacheren“ Opfern machen. Dazu gehört Schüchternheit, Ängstlichkeit und Unsicherheit sowie ein geringes Selbstwertgefühl. Kinder und Jugendliche, denen es zu Hause an Liebe und Zuwendung fehlt, sehnen sich nach Personen, die ihnen das geben, was sie Zuhause vermissen. Sind Kinder und Jugendliche mit traditionellen Erziehungsvorstellungen in der Familie wie z.B. dem Verlangen von unbedingtem Gehorsam gegenüber Erwachsenen aufgewachsen, haben sie nicht gelernt, sich Erwachsenen gegenüber zu widersetzen. 

Sexualisierte Annäherung

Die Täterin oder der Täter setzt an den Schwächen und Bedürfnissen des Kindes, der oder des Jugendlichen an und baut zum Teil eine enge freundschaftliche Beziehung zu ihr oder ihm auf. Die Gespräche drehen sich um sexuelle Themen wie den eigenen Vorerfahrungen, sexueller Vorlieben oder auch Neugierde. Durch scheinbar zufällige, unverfängliche Berührungen (kleinen Grenzverletzungen) gewöhnt die Täterin oder der Täter das Kind, die Jugendliche oder den Jugendlichen an Körperkontakt, was beim Kind oder der oder dem Jugendlichen zu Zweifel an seiner Wahrnehmung führt. 

Langfristige Aufrechterhaltung des Zugangs zum Kind

Die Täterin oder der Täter spricht massive Drohungen aus, um das Opfer zum Schweigen zu bringen. Sie oder er droht beispielsweise mit Konsequenzen für die Familie, mit der Tötung des Haustieres, mit körperlicher Gewalt oder spricht gar Morddrohungen aus. Der Missbrauch wird zum gemeinsamen Geheimnis erklärt und die Täterin oder der Täter droht mit dem Aufkündigen der Freundschaft. Es kann auch zum tatsächlichen Einsatz körperlicher Gewalt kommen. 

Stützung und Nutzung der „Täterlobby“

Die Täterin oder der Täter stützt sich auf die Personen und Institutionen, die dazu beitragen, sexualisierte Gewalt nicht als Straftat zu bewerten, sie zu verharmlosen oder zu rechtfertigen, und die traumatischen Folgen für die Opfer zu leugnen. 

Sie oder er baut also nicht nur gezielt eine Beziehung zum Kind, zur oder zum Jugendlichen auf, sondern auch zu den Personen in dessen Umgebung. Sie oder er manipuliert gezielt Eltern oder Freundinnen und Freunde und schafft Vertrauen, damit diese Personen später die Täterin oder den Täter schützen, weil sie ihr oder ihm mehr Glauben schenken als der oder dem Jugendlichen. 

Das Leitbild der DPSG gegen sexualisierte Gewalt

Auf Basis der Prinzipien der Weltpfadfinderbewegung orientiert sich die DPSG am Gesetz der Pfadfinderinnen und Pfadfinder. Es beschreibt Regeln, an die sich alle Mitglieder des Verbandes aus eigener Überzeugung halten. Das Leitbild gegen sexualisierte Gewalt leitet sich aus diesem Gesetz ab.  Als Pfadfinderin, als Pfadfinder…

 

 

… begegne ich allen Menschen mit Respekt und habe alle Pfadfinder und Pfadfinderinnen als Geschwister.

Das bedeutet für uns auch, keinesfalls die Grenzen, welche Andere uns setzen, zu überschreiten, die Intimsphäre der Anderen zu achten, und keine geistige, körperliche und rollenmäßige Überlegenheit auszunutzen. 

 

… gehe ich zuversichtlich und mit wachen Augen durch die Welt. 

Das bedeutet für uns auch, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und benennen zu können und sensibel zu sein für die Grenzen der Anderen sowie vor Grenzverletzungen nicht die Augen zu verschließen. 

 

… bin ich höflich und helfe da, wo es notwendig ist.

Das bedeutet für uns auch, denen zu helfen, die sexuell bedrängt oder missbraucht werden, und, wenn erforderlich, selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen, etwa von einer Person unseres Vertrauens oder einer außenstehenden Fachkraft.

 

… mache ich nichts halb und gebe auch in Schwierigkeiten nicht auf. 

Das bedeutet für uns auch, einer Vermutung nachzugehen, selbst wenn es unangenehm ist, und dabei kompetente Unterstützung von außen einzuholen.

 

… entwickle ich eine eigene Meinung und stehe für diese ein.

Das bedeutet für uns auch, im Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht pauschal die Auffassung von anderen zu übernehmen, sondern sich von Fall zu Fall kritisch ein eigenes Urteil zu bilden und dabei weder zu verharmlosen noch zu übertreiben.

 

… sage ich, was ich denke und tue, was ich sage.

Das bedeutet für uns auch, im zwischenmenschlichen Kontext, im Verband und in der Öffentlichkeit konsequent gegen sexualisierte Gewalt vorzugehen. 

 

… lebe ich einfach und umweltbewusst. 

Das bedeutet für uns auch, unseren Körper als Teil der schützenswerten Natur zu begreifen, dessen Bedürfnis nach Intimität zu wahren und nichts zuzulassen, was diesen schädigen könnte. 

 

… stehe ich zu meiner Herkunft und zu meinem Glauben.

Das bedeutet für uns auch, die Wertvorstellungen anderer sowie der eigenen Kulturen und Glaubensrichtungen hinsichtlich ihrer und unserer Sexualität zu achten und sich damit auseinanderzusetzen. 



1 Enders, Ursula: Grenzen achten, KiWi, 2012

2 Polizeiliche Kriminalstatistik 2010

3 Heiliger, Anita: Täterstrategien bei sexuellem Missbrauch und Ansätze der Prävention. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 56/57, 2001, S. 71

 

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