Im Ideal schaffen wir es, durch Präventionsmaßnahmen erst gar keine Situationen sexualisierter Gewalt entstehen zu lassen. Doch können wir nicht jede Situation verhindern. Deswegen ist es notwendig, sich auch dem Thema Intervention als Teil der Prävention zu widmen.
Geht es um Intervention, ist das Einschreiten bzw. das Unterbrechen eines Prozesses gemeint. Das gilt im Zusammenhang mit (sexualisierter) Gewalt sowohl für problematische, komplexe Situationen als auch für das Einschreiten bei Grenzverletzungen in der Gruppenstunde. Gerade bei Grenzverletzungen sind oft Situationen zwischen Kindern und Jugendlichen zu beobachten, die zu einer klaren Positionierung und zum Eingreifen des Leitungsteams herausfordern.
Intervention bei Grenzverletzungen
Intervention bei Grenzverletzungen betrifft vor allem Situationen im Pfadfinderalltag. Dabei können sich andere Kinder und Jugendliche genauso grenzverletzend verhalten wie Leiterinnen und Leiter. Hier ist es notwendig, mit der grenzverletzenden Person zu sprechen und zu erklären, warum dieses Verhalten unangemessen ist. Ob ein Verhalten als Grenzverletzung wahrgenommen wird, ist immer auch abhängig von der Wahrnehmung der oder des Betroffenen. Deswegen ist wichtig, die grenzverletzende Person für die verschiedenen, sehr subjektiven und individuellen Grenzen anderer zu sensibilisieren.
Natürlich ist jede Situation ein Einzelfall und muss entsprechend individuell behandelt werden. Die folgenden Handlungsschritte können aber eine Hilfestellung sein, wie in solchen Situationen gehandelt werden kann.
- Ruhig bleiben: Durch überlegtes Handeln können Fehlentscheidungen und übereilte Reaktionen vermieden werden.
- Aktiv werden: Grenzverletzung klar benennen. Keine verwässernde Diskussion zulassen. Soweit möglich Situation klären und beruhigen.
- Position beziehen: Vorbildfunktion erfüllen und selbst Stellung gegen diskriminierende oder verletzende Handlungen und Äußerungen beziehen.
- Reflexion: Im Leitungsteam Situation besprechen und ggf. mit beteiligten Kindern und Jugendlichen noch einmal thematisieren. Gegebenenfalls Information der Eltern sowie des Stammesvorstandes. Wenn nötig Beratung (Diözesanbüro, Fachberatungsstelle,…) in Anspruch nehmen.
- Weiterarbeit: Manchmal eignen sich situativ-schwierige Situationen dazu, gemeinsam mit den Gruppenmitgliedern über den Umgang miteinander ins Gespräch zu kommen, Regeln zu verbessern oder Vereinbarungen zu treffen.
Grenzen von Intervention für Leiterinnen und Leiter
Manchmal kommt es zu Situationen sexualisierter Gewalt, die über Grenzverletzungen hinausgehen. Besteht der Verdacht auf eine schwere (sexualisierte) Gewalttat, reichen die oben genannten Handlungsrichtlinien nicht mehr aus. Um Leiterinnen und Leiter nicht zu überfordern, sollte immer Hilfe von außen geholt werden. Geeigneter Ansprechpartner ist in jedem Fall das Diözesanbüro. In den meisten Diözesen gibt es mittlerweile eine Ansprechperson für das Thema, die geeignete Fachberatungsstellen empfehlen kann. Eine weitere Möglichkeit, sich Unterstützung zu holen, ist das zuständige Jugendamt.
Viele Jugendämter haben eine Notfallnummer, die 24 Stunden erreichbar ist.
Wichtig für Leiterinnen und Leiter ist: ein „Ermittlungsauftrag“ besteht auf keinen Fall und Versuche „Beweise“ zu sammeln, scheitern meist kläglich, überfordern persönliche Beziehungen oder erweisen sich in einem möglichen Gerichtsverfahren sogar als hinderlich. Durch falsch gestellte Fragen beispielweise können Betroffene später möglicherweise als beeinflusst und nicht mehr befragungsfähig beurteilt werden.
Zudem kommt hinzu, dass es wie oben beschrieben keine sicheren Anzeichen im Sinne einer Checkliste für sexualisierte Gewalttaten gibt. So verschieden wie Kinder und Jugendliche sind und leben, so unterschiedlich können sie auch auf solche Übergriffe reagieren. Deswegen ist unbedingt notwendig, sich Hilfe bei einer externen Fachberatungsstelle zu holen. Diese Fachberatung dient nicht nur dazu, Betroffene zu begleiten. Im ersten Schritt kann sie Leiterinnen und Leiter unterstützen, zu entscheiden, welche nächsten Schritte gegangen werden.
Interventionsleitfaden der DPSG
Für Situationen, die über Grenzverletzungen hinausgehen, hat die DPSG einen Interventionsleitfaden herausgegeben, der Leiterinnen und Leitern Hilfestellung geben soll. Der Leitfaden ist anwendbar bei sexuellen Übergriffen sowohl außerhalb als auch innerhalb des Verbands. Natürlich handelt es sich auch hier lediglich um einen Leitfaden, der zur Orientierung dienen soll. Wie für Grenzverletzungen gilt auch hier: jeder Fall ist ein Einzelfall und entsprechend individuell zu behandeln.
Interventionsleitfaden
Stammesebene
1. Bewahre Ruhe
Durch überlegtes Handeln kannst du Fehlentscheidungen und übereilte Reaktionen vermeiden.
2.Bleib damit nicht alleine.
Ziehe eine Vertrauensperson hinzu. Wenn der Stammesvorstand nicht selber betroffen ist und du Vertrauen zum Vorstand hast, solltest du als erstes ihn informieren und um Rat fragen. Hast du dabei ein ungutes Gefühl, suche dir Rat bei einer anderen Person deines Vertrauens aus der Leiterrunde.
3. Klärt, ob es sich bei der Situation um ein aktuelles Geschehen oder eine vergangene Situation handelt.
Handelt es sich um ein aktuelles Geschehen, verlangt die Situation sofortigen Handlungsbedarf, um eine mögliche Wiederholung zu vermeiden. In diesem Fall solltet ihr euch Zeit verschaffen, zum Beispiel durch das Ausfallen der Gruppenstunde. Damit euer Verdacht nicht öffentlich wird, könnt ihr auch Gründe vorschieben wie beispielsweise Krankheit. Beachtet: ihr müsst die Persönlichkeitsrechte aller wahren, also auch die der oder des Beschuldigten.
4. Holt euch Hilfe von einer Fachberatungsstelle und dem Diözesanvorstand.
Sowohl der Diözesanvorstand als auch die Fachberatungsstelle begleiten euch im weiteren Verlauf. Dabei hilft die Expertin bzw. der Experte der Fachberatungsstelle euch bei allen verbandsexternen Entscheidungen, der Diözesanvorstand berät euch bei allen Entscheidungen, die Konsequenzen für den Verband haben können.
Mit Hilfe der Fachberatungsstelle und/oder des Diözesanvorstands…
… entscheidet ihr, ob ihr dem Verdacht überhaupt weiter nachgehen solltet.
… überlegt ihr, wie ihr das betroffene Kind, die betroffene Jugendliche oder den betroffenen Jugendlichen weiter begleitet und wie ihr mit ihr oder ihm umgeht. Auch den Umgang mit den Angehörigen – in der Regel den Eltern – solltet ihr an dieser Stelle klären. Wichtig dabei ist auf jeden Fall: gebt dem Kind oder der bzw. dem Jugendlichen das Gefühl, ernst genommen zu werden!
… entscheidet ihr, wie ihr die Beschuldigte bzw. den Beschuldigten mit dem Verdacht konfrontiert. Das Gespräch führt ihr gemeinsam mit einer erfahrenen Fachkraft durch.
… prüft ihr eventuell aufkommende Alternativhypothesen. Es ist wichtig, auch Alternativhypothesen zuzulassen und diese ernst zu nehmen, um sich eine möglichst objektive Meinung bilden zu können.
… entscheidet ihr, ob ein Verbandsausschlussverfahren eingeleitet wird und ob ihr die Polizei oder die Staatsanwaltschaft informiert.
… klärt ihr, ob und wie ihr die Öffentlichkeit informiert. Dazu gehören auch nicht betroffene Stammesmitglieder und deren Eltern.
… überlegt ihr euch, wie und durch wen alle Betroffenen weiter begleitet werden.
5. Dokumentiert den Prozess.
Dazu gehört auch eine ausführliche schriftliche Darstellung und Begründung aller eurer getroffenen Entscheidung. Am besten ist, ihr dokumentiert gleich von Beginn. So könnt ihr am Schluss nichts Wichtiges vergessen. Was ihr bei der Dokumentation beachtet solltet, haben wir im Anschluss an den Interventionsleitfaden für euch zusammengestellt.
6. Achtet auf euch und eure Gefühle.
Reflektiert abschließend den Prozess und eure Entscheidungen. Achtet dabei darauf, wie es euch als Person und auch als Team geht. Holt euch bei Bedarf auch hierfür Hilfe durch eine externe Fachkraft.
Ziel dieses Bausteins ist, Leiterinnen und Leiter für das Thema Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu sensibilisieren und ihnen gleichzeitig Unterstützung zu geben, wenn sie doch in die Situation kommen, handeln zu müssen. Dabei sollen Unsicherheiten abgebaut werden, damit Leiterinnen und Leiter den Kindern und Jugendlichen in unserem Verband den geschützten Raum (wieder)geben können, den sie brauchen, um sich zu selbstbewussten und starken Persönlichkeiten zu entwickeln.
Wichtig ist, den eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen und mutig zu sein, Dinge offen anzusprechen. So können Unsicherheiten aufgehoben und Situationen geändert werden. Außerdem kann man sich nur Hilfe holen, wenn man offen mit Situationen umgeht. Die Leiterinnen und Leiter in unserem Verband sind (in der Regel) keine Fachleute. Deswegen braucht es Hilfe und Unterstützung von außen.