Offenheit
Leiterinnen und Leiter müssen sich zunächst die grundlegende Frage stellen:
Wie offen ist unser Stamm für Inklusion?
Wie lässt sich Inklusion in unserem Stamm umsetzen?
Offenheit heißt dabei für eine Leiterrunde nicht, sich zu irgendetwas zu verpflichten oder immer zu 100% allen Erwartungen gerecht zu werden (denn das schafft niemand). Es geht darum, sich grundsätzlich für das Pfadfinden mit und ohne Behinderung einzusetzen. Wenn das der Fall ist, stellt sich direkt die nächste Frage:
Fühlen sich auch wirklich ALLE bei uns willkommen?
Die Frage kommt euch vielleicht komisch vor, u.a. weil das Motto der DPSG-Behindertenarbeit „nix besonderes“ ist – Menschen mit Behinderung gehören bei uns ganz selbstverständlich mit dazu. Wir neigen daher dazu, Inklusion nicht groß zum Thema zu machen, sondern sie einfach zu leben. Und da spricht grundsätzlich natürlich nichts dagegen. Leider ist es aber so, dass es in unserer Gesellschaft generell (noch) keine Selbstverständlichkeit ist, dass Jugendverbände für Menschen mit Behinderung offen sind. Wenn wir also nicht über Inklusion in der DPSG reden, kann es sein, dass Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung nie erfahren, dass sie bei uns willkommen wären. Oder dass die Eltern eines behinderten Kindes gar nicht auf die Idee kommen, dass ihr Kind bei den Pfadfindern mitmachen könnte.
Was können Leiterinnen und Leiter tun?
- Schreibt bei der Vorstellung eures Stammes und eurer Gruppen (egal ob auf einem Flyer oder der Homepage) doch dazu, dass bei euch alle willkommen sind, d.h. egal welcher Religion sie angehören, aus welchem Land sie kommen, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Dann fühlen sich gleichzeitig zum Beispiel auch Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund eingeladen.
- Entwerft und veröffentlicht einen Flyer in „Leichter Sprache“[1], um euren Stamm und das Pfadfinden auch Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Lernbehinderung vorstellen zu können. Ihr könnt euch dabei am Flyer der DPSG-Bundesebene orientieren (Link am Ende dieses Kapitels) oder diesen direkt verwenden und spezifische Infos zu eurem Stamm ergänzen.
- Präsentiert euch und das Pfadfinden nicht nur an Orten (z.B. Schulen), an denen es fast ausschließlich Kinder und Jugendliche ohne Behinderung gibt. Überlegt auch, wie ihr Kinder und Jugendliche mit Behinderung erreicht – beispielsweise über inklusive Sportgruppen und -vereine, Inklusionsschulen oder Vereine von Menschen mit Behinderung.
Aufnahme eines Jungen oder Mädchen mit Behinderung in die eigene Gruppe
Wenn ihr angefragt werdet, ob ein Junge oder Mädchen mit einer Behinderung in eure Gruppenstunde kommen kann, empfiehlt es sich neben den üblichen Fragen (Name, Alter usw.) zunächst folgendes zu klären:
- Welche körperlichen, geistigen oder sozialen Einschränkungen liegen vor?
- Welche besonderen Bedürfnisse hat das Kind (bzw. die/der Jugendliche)?
- Was fällt ihr oder ihm jeweils im Alltag eher leicht, was eher schwer?
Wichtig ist in dieser Situation, dass Leiterinnen und Leiter kein vorschnelles Urteil fällen, sondern sich zunächst ein eigenes Bild machen. Ladet das Kind, die oder den Jugendlichen mit Beeinträchtigung in die Gruppenstunde ein. Solltet ihr auf Behinderungen treffen, mit denen ihr im Vorfeld noch keine Erfahrung gemacht habt, dauert es vielleicht eine Zeit lang, bis alles rund läuft und routinierte Abläufe erfolgen können. Scheut euch nicht um Hilfe zu bitten, mit dem Kind zu sprechen, die Eltern einzubeziehen, Beratung einzuholen (z.B. Organisationen der Behindertenhilfe vor Ort anfragen).
Vor der ersten gemeinsamen Gruppenstunde kann es Sinn machen, mit den bisherigen Mitgliedern der Gruppe über den Neuankömmling zu sprechen – zum Beispiel, wenn es um einen Jungen mit Autismus geht, dessen Verhalten die Anderen ansonsten unter Umständen irritieren könnte.
Meist empfiehlt es sich, an diesem Punkt nochmal die Eltern einzubeziehen, die ggf. den erhöhten Betreuungs-/Unterstützungsaufwand gut einschätzen können. Bevor ihr das Kind bzw. die/den Jugendliche/n in die Gruppe aufnehmt, ist es sinnvoll, mit dem Kind oder der/dem Jugendlichen und/oder ihren/seinen Eltern folgende Fragen zu klären:
- Was ist im Umgang mit dem Kind (oder der/dem Jugendlichen) zu beachten?
- Wie kann der Gruppenalltag ihren/seinen Bedürfnissen entsprechend gestaltet werden?
- Müssen Medikamente eingenommen werden?
- Was ist in Notfällen zu tun?
- Wie sind die Eltern bei Rückfragen oder im Notfall erreichbar?
Sprecht klar und deutlich an, wenn ihr das Gefühl habt, dass mehr von euch erwartet wird, als ihr leisten könnt. Den Eltern sollte von Anfang an bewusst sein, dass ihr ehrenamtliche Leiterinnen und Leiter seid, nicht etwa Therapeuten oder speziell ausgebildete Fachkräfte der Heil- oder Sonderpädagogik.
Das Leitungsteam sollte sich nach der ersten Begegnung nochmal in Ruhe Gedanken machen, wie es zu der Neuaufnahme steht. Es ist natürlich auch entscheidend, ob sich das jeweilige Kind oder die/der Jugendliche in der Gruppe wohlgefühlt hat. Folgende Fragen können bei der Orientierung helfen:
- Haben wir im Stamm schon Erfahrungen mit Inklusion? Wie können wir aus unseren bisherigen Erfahrungen lernen und darauf aufbauen?
- Welche Herausforderungen könnten auf uns als Leiter/innen zukommen, wenn wir uns für die Aufnahme entscheiden?
- Trauen wir uns zu, diese Herausforderungen zu bewältigen?
- Haben wir die nötigen Ressourcen im Leitungsteam, nach wie vor allen Kindern/ Jugendlichen der Gruppe gerecht zu werden?
Es muss nicht alles perfekt sein, wichtig ist, dass es für beide Seiten gut ist und keine Seite überfordert ist. Dabei sollte nicht nur auf das Kind oder die/den Jugendliche/n geachtet werden, auch ihr als Leiter/innen und die Gruppe sollten dabei berücksichtigt werden. Wenn es dem Kind bzw. der/dem Jugendlichen nicht gut geht oder die Gruppe gefährdet ist (und auch die Hilfe von außen zu keiner Veränderung beitragen konnte), dann kann es nötig sein, für die betreffende Person eine andere Freizeitmöglichkeit zu suchen.
Schlussendlich ist es wichtig, dass ihr euch als Leiterinnen und Leiter über eure Möglichkeiten, aber auch Grenzen bewusst werdet. Wenn ihr euch überfordert und der Situation nicht gewachsen fühlt, habt keine Hemmungen „Nein“ zu sagen.
Inklusion im Pfadfinderalltag
Als Leiterinnen und Leiter einer inklusiven Gruppe solltet ihr folgendes beachten:
- Sprecht ganz offen mit dem jeweiligen Mädchen oder Jungen (und ggf. auch den Eltern) über ihre/ seine Behinderung und deren Folgen. Auch in der Gruppe darf die Behinderung kein Tabu-Thema sein. Fragen sind ausdrücklich erlaubt, wobei persönliche Grenzen aber respektiert werden müssen.
- Achtet gleichzeitig darauf, dass nicht nur die Behinderung, sondern der ganze Mensch gesehen wird – mit seiner individuellen Persönlichkeit, seinen Stärken und Schwächen.
- Achtet auf Augenhöhe, vermeidet Bevormundung. Das heißt konkret: Gebt einem Kind (bzw. Jugendliche/n) mit Behinderung Raum sich auszuprobieren. Unterstützt sie/ihn nur, wenn das gewünscht ist. Und lasst sie/ihn selbst Entscheidungen treffen.
- Besprecht gemeinsam mit dem Kind (bzw. Jugendliche/n) und ggf. den Eltern, wie die Teilnahme am Gruppenalltag, aber auch an Lagern und Fahrten gut gelingen kann. Es ist nicht schlimm, wenn bei manchen Aktionen nicht alle in gleicher Art und Weise mitmachen können, solange das für alle Beteiligten okay ist.
- Findet bei Herausforderungen gemeinsam kreative Lösungen. Bindet dabei auch die Leiterrunde mit ein und fragt bei Bedarf auch externe Expert/innen wie etwa Beratungsstellen für Inklusion.
- Falls durch den Mehrbedarf an Unterstützung oder Betreuung zusätzliche Kosten entstehen (z.B. weil ein persönlicher Assistent mit aufs Lager fährt), könnt ihr spezielle Zuschüsse beantragen (siehe Links am Ende des Kapitels). Fragt auch bei den Eltern des Kindes/ des Jugendlichen nach, ob sie noch Ideen oder Kontakte haben, die euch dabei weiterhelfen können.
- Reflektiert im Leitungsteam (und ggf. mit Einbindung der Gruppe) regelmäßig, wie es mit der Inklusion im Pfadfinderalltag läuft, und überlegt ggf. gemeinsam, was noch verbessert werden könnte.
Fazit
Wenn bei uns in der DPSG Inklusion gelebt wird, ist das nicht nur ein Gewinn für junge Menschen mit Behinderung, die dadurch Pfadfinderinnen und Pfadfinder werden können. Es ist ein Gewinn für uns alle, weil sich unser Horizont erweitert und Teamwork eine ganz neue Bedeutung bekommt. Ein gemeinsames Pfadfinden mit und ohne Behinderung ist in der Praxis oft leichter als anfangs angenommen. Wir müssen dafür nur unsere eigenen Hemmungen überwinden, uns darauf einlassen und offen aufeinander zugehen. Denn die meisten Barrieren sind in unseren Köpfen. Wenn wir es schaffen, die zu überwinden, findet sich für fast alle Fragen und Herausforderungen eine Lösung.
[1] Leichte Sprache wird eingesetzt, um Texte für Menschen mit geistigen Behinderungen oder Lernbehinderungen verständlicher zu machen. Sie ist aber auch hilfreich für Menschen, die nicht so gut Deutsch sprechen. Wichtig bei der Leichten Sprache ist zum Beispiel, dass man nur einfache Wörter und kurze Sätze verwendet. Das „Netzwerk Leichte Sprache“ (siehe Links) bietet einen guten Überblick über die Regeln.